Menschen

Montag, 20. März 2006

Lehrer und anderes Ungemach

Es gibt Dienstleistungsberufe, deren Vertreter ihre Monopolstellung schamlos ausnutzen, um den Kunden, den sie für ein notwendiges Übel halten, einzuschüchtern.

Dazu sieht meine Rangfolge ungefähr so aus:
1. Gefängniswärter
2. Finanzbeamte
3. Lehrer und Bezirksschornsteinfeger
4. Firmeninterne IT Beauftragte in großen Unternehmen
5. PC-Softwarehersteller, Bankangestellte und Versicherungsagenten.

Ich glaube, bei den ersten zwei Plätzen sind wir uns alle einig, da brauche ich nicht viel zu erklären.
In den letzten zwei Fällen kann man darüber streiten, ob die Reihenfolge so oder eher andersrum richtig ist. Ich meine, daß die EDV Fritzen doch schlimmer sind. Sie kennen bestimmt den Typ. Kommt rein, setzt sich ganz unverschämt in Ihren Bürosessel, macht die Kiste an und fragt dann entsetzt: "Was haben Sie schon wieder angestellt?" Dann meckert er über die schlampige Arbeit des Vorgängers bei der Installation (das war er selbst), sagt etwa zehn minutenlang "Und das ist das, und das ist das, und das ist das...", bringt dann die Kiste zum Laufen, hinterläßt Ihnen drei bis zehn neue Unterverzeichnisse, die alle "old" heißen und verschwindet. Später beim erneuten Hochfahren des Rechners stellen Sie fest, daß Sie drei völlig neue Fehlermeldungen kriegen, die Sie einzeln quittieren müssen. (Mittlerweile werden die PCs bei uns in der Firma von zwei externen IT-Unternehmen betreut. Jetzt ist Höflichkeit angesagt. Ich habe jedoch die Vermutung, daß sie uns Schülerpraktikanten unterschieben, die überhaupt keine Ahnung haben. Neulich kam einer zu mir, der schnurstracks zum Aktenvernichter ging und sagte: "Na, dann wollen wir mal!" Sie lernen von uns und auf unsere Kosten, und wenn sie's endlich draufhaben, wechseln sie in eine größere Firma als interne IT Beauftragte.)
Ich bin aber furchtbar abgeschweift.
Sie wollen sicherlich wissen, was Lehrer und Bezirksschornsteinfeger gemeinsam haben.
Ganz einfach. Beide Zünfte teilen handschriftlich ausgefüllte Formulare aus, die ähnlich unverschämt anmuten:

DER SCHORNSTEINFEGER KOMMT AM: 0X.0Y.0Z UM: 10 h. BITTE SORGEN SIE FÜR ZUGANG!
GEZ.: Ihr Bezirksschornsteinfeger

BETR.: Schüler XYZ KLASSENLEHRER: Dingenskirchens BITTE KOMMEN SIE AM: Donnerstag, den 0X.0Y.0Z UM: 10:05 h IN MEINE SPRECHSTUNDE.
GEZ.: Dingenskirchens

oder noch schlimmer:

BETR.: Schüler XYZ KLASSENLEHRER: Dingsbums VORFALL: Schüler stört ständig den Unterricht durch Zwischenrufe und Balgereien mit dem Nachbarn BITTE DAFÜR ZU SORGEN, DASS DIES AUFHÖRT.
GEZ.: Dingsbums

Wohlgemerkt ist der mit Großbuchstaben geschriebene Text Bestandteil des Formulars.
Lehrer leisten sich jedoch häufig noch größere Klopse.
Wir setzen den harmlosen Fall, Sie heißen Kreuzritter und schicken Ihren Sohn in die Schule. Sie können in der heutigen Zeit davon ausgehen, daß mindestens ein Lehrer Ihren Sprößling vor der versammelten Klasse mit Namen wie Kreuzgitter, Kreuzotter, Kreuzschlitz, Creutzfeld-Jakob oder gar Kreuzweise anredet. Der genannte Sohn möchte am liebsten in den Boden versinken, während die restliche Klasse johlend dem Lehrerbeispiel folgt. Versuchen Sie mal, dagegen anzugehen!
Da bleibt nur die Frage übrig, ob diese modernen Pädagogen fachlich auch auf der Höhe der Zeit sind.
Urteilen Sie selbst.
Der Deutschlehrer übersetzt das Wort "Respekt" mit "Angst vor der Autorität".
Die Biologielehrerin bezeichnet Katzen als Aasfresser und behauptet, daß Viren auf ihrer "Zelloberfläche" Härchen haben, die der Fortbewegung dienen.
Die Lehrerin für Geschichte und Ethik erklärt die Prußen für ein altgermanisches Volk und gibt an, daß die Unterdrückung der Frau im Koran festgeschrieben sei.
Und wenn Sie Ihren Sohn nicht mehr in die Schule gehen lassen wollen, wo er lauter Unsinn eingetrichtert kriegt, dann machen Sie sich strafbar.
Erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, daß die Gesellschaft genau die Lehrer hat, die sie verdient. Erzählen Sie das mal ihrem Sohn.

Sonntag, 12. März 2006

Der Komiker

Der Arzt stürmte rein, gab mir die Hand, sagte "Ich bin gleich bei Ihnen" und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er war eine überaus interessante Erscheinung. Die wenigen Haare, die ihm seine kapitale Glatze übrig ließ, sein sauber gestutzter Vollbart sowie seine glänzenden Augen waren pechschwarz, sein Teint hingegen sehr hell. Ich schätzte ihn auf Anfang Vierzig. Er setzte eine goldene Lesebrille auf, klemmte ein paar Röntgenbilder an die Leuchtscheibe, betrachtete sie eingehend, und fing dann an, in sein Diktiergerät zu sprechen, während er mich über den Brillenrand sehr genau musterte.
Er sagte dabei erst meine persönlichen Daten auf, dann kam ein Schwall von mir unbekannten Fachbegriffen, die jedoch alle von einem beruhigenden "ohne Befund" begleitet wurden. Zum Schluß wurde ich doch wach: "Verdacht auf dentogene Zyste links oben".
Er schaltete das Diktiergerät aus und gab mir nochmals die Hand. "Trottel" dachte ich.
"Sie kommen von Dr. Nickel? HNO? Was haben Sie für Beschwerden?"
"Chronische Rhinitis. Aber ich muß wohl eher zu einem Zahnarzt gehen, merke ich."
"Wie kommen Sie jetzt darauf?"
"Sie haben doch vorhin von einer dentogenen Zyste gesprochen, oder nicht?"
"Sie haben doch nicht etwa zugehört? Das war aber nicht für Sie bestimmt!"
Ich verkniff mir die Bemerkung, daß ich an den Ohren nichts habe und erwiderte nichts. Später sollte mir die verpaßte Gelegenheit noch leid tun.
"Das ist der Bericht für den behandelnden Arzt. Was Sie wissen müssen, das erzähle ich Ihnen gleich" sagte er trocken.
Und dann erzählte er mir, indem er jeden medizinischen oder wissenschaftlichen Begriff sorgfältig vermied, daß er - bis auf eine leichte Schwellung der Schleimhäute - nichts besonderes feststellen kann. Er sprach in kurzen Sätzen mit einfachen Worten wie zu einem Kind. Jetzt merkte ich erst, daß er mich gehörig auf den Arm nahm.
"Und was ist mit der Zyste?" fragte ich hartnäckig.
"Ich kann sie als Ursache für Ihre Beschwerden mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Wurden Sie im Hinblick auf eine Allergie untersucht?"
"Und ob. War aber bisher nichts zu finden."
"Nuja, eine Nickelallergie haben Sie bestimmt nicht. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück. Nehmen Sie Ihre Bilder gleich mit, den Bericht schicke ich Dr. Nickel nach.
Das passierte vor sechs Jahren.
Vor einiger Zeit schlug ich mir am Wochenende beim Pflastern mit dem Hammer auf den Mittelfinger der linken Hand und suchte am nächsten Montag den Komiker wieder auf: Mein Mittelfinger war nämlich in bezug auf Form, Abmessungen und Farbe mittlerweile kaum von einer Currywurst zu unterscheiden. Ich konnte ihn weder strecken noch richtig beugen.
Der Arzt schien sich in diesen sechs Jahren überhaupt nicht verändert zu haben.
"Wie ist das passiert?" Er betrachtete meinen Finger und bewegte ihn sachte in verschiedenen Richtungen.
"Hammerschlag" gab ich an.
"Man muß aber ein ziemlicher Exzentriker sein, um mit einem Hammer auf seinen Finger zu zielen."
"Den Finger habe ich nur getroffen, nicht anvisiert. Gezielt habe ich auf einen Stein und da war der Finger halt im Weg. Ein Exzentriker bin ich trotzdem, obwohl mich die meisten Leute bloß für einen Sonderling halten."
Meine Hand wurde geröntgt: Gleiche Leuchtscheibe, gleiche Brille, diesmal jedoch ohne Diktat. Offenbar hatte er jetzt mehr Zeit. Der Finger war nicht gebrochen.
"Eine reine Quetschung. Ich schicke Ihrem Hausarzt einen genauen Bericht. Das Hämatom wird Sie noch eine Weile begleiten, weil der spontane Fibrinolyseprozeß seine Zeit braucht, Verband und medikamentöse Behandlung sind aus meiner Sicht entbehrlich. Wenn Sie Bedenken haben, können Sie zu einem Chirurgen gehen, wobei Sie eine Amputation um jeden Preis verweigern sollten. Schonen Sie die Hand und lassen Sie den Arm nicht zu lange hängen. Es ist übrigens in Ihrem Fall auch nicht sehr klug, die Hand zu heben."
Ich machte den Mund auf und wollte gerade fragen, auf welchen medizinischen Zusammenhang die letzte Empfehlung zurückzuführen ist, als ich merkte, daß er mich wieder af den Arm genommen hatte. Meine Hand sah in der Tat so aus, als könnte ich mit Stefan Effenberg verwechselt werden, wenn ich sie - so wie sie mit dem gekrümmten, fast angewinkelten Mittelfinger verformt war - hochgehalten hätte. Und weil ich den Mund schon offen hatte, sagte ich, während er mich grinsend aus seinem Untersuchungszimmer hinausschob, irgend etwas wie "Sie sind mir aber ein Komiker!" oder so ähnlich.
Mein Hausarzt hatte auch viel Sinn für Humor. Er krümmte sich vor Lachen, als er den Bericht las. Er reichte mir das Schreiben über den Schreibtisch. Unmittelbar unter meinen persönlichen Daten fand sich darauf unter der Rubrik "Allgemeines" die folgende Eintragung: "Exzentriker (Sonderling)".
Er hatte wieder gewonnen, dieser Heini, diesmal haushoch.

Donnerstag, 9. März 2006

Graz, Gott sei Dank!

Im vorigen Herbst mußte ich schon wieder nach Graz.
Diesmal konnte ich mich den "social events" nicht ganz entziehen. So wurde ich wieder mal auf den Schloßberg geschleppt und anschließend mit steirischen Köstlichkeiten und small-talk abgefüllt.
Die unschöne Seite von Austria konnte ich jedoch auch diesmal nicht entdecken. Das Unappetitliche war höchstwahrscheinlich grad in München… Oktoberfest und so…
Wie auch immer, jetzt stand die Heimreise an. Am Flughafen ging ich nach dem Einchecken durch die Sicherheitskontrolle.
"Wem gehört diese Tasche?" fragte die Dame, die sich am Monitor die Innereien unserer Gepäckstücke anschaute.
"Mir" sagte ich heiter und wollte sie mir schnappen. Ich meine natürlich die Tasche.
"Sie haben eine Säge drin. Bitte machen Sie sie auf."
Ich guckte die Tasche noch einmal an. Kein Zweifel, es war meine. Dann blickte ich der Dame tief und fest in die Augen.
"Das kann nicht sein" sagte ich.
"Besser gesagt ein Sägeblatt, wenn Sie so wollen. Bitte machen Sie sie auf."
"Ein Sägeblatt? Was Sie sehen, das ist mein Autoschlüssel" sagte ich voller Mitgefühl. Ich wußte Bescheid, es war doch meine Tasche.
"Was ich sehe, das ist ein Sägeblatt. Bitte machen Sie die Tasche endlich auf." Sie sprach ganz ruhig, aber bestimmt. Sie hatte Tausende von der Sorte gesehen, die Bescheid wußten.
Ich kramte mein ganzes Zeug raus, bis ich die Tasche für leer hielt.
Die Dame durchstöberte die vermeintlich leere Tasche und holte ein originalverpacktes Stichsägeblatt heraus. Darauf verkündete ein oranges Preisschild: DM 17.80.
"War unter der Bodenverstärkung versteckt" sagte sie. "Das müssen Sie abgeben. Sie können's aber wieder abholen, wenn Sie das nächste Mal hier sind."
Ich war wohl etwas verwirrt, denn ich murmelte:
"Ach, schmeißen Sie's weg, bezahlt ist es ja schon."
Ein einzeln verpacktes Sägeblatt, DM 17.80?
Später im Flieger konnte ich mich auf einmal daran erinnern. Das war ein Hartmetallsägeblatt für Fliesen, das ich vor etlichen Jahren gekauft hatte. Vermißt habe ich das Ding überhaupt nicht. Ich dachte eine Weile darüber nach, wie viel unnützes Zeug wir Menschen doch anschaffen.
Und plötzlich lief es mir kalt den Rücken runter.
Mit dieser Tasche und mit diesem Sägeblatt drin bin ich mindestens sechs mal nach Amerika geflogen, von etlichen Europaflügen ganz zu schweigen. Ich konnte von Glück reden, daß ich nicht in Guantanamo gelandet bin.

Montag, 6. März 2006

Ein Esel in Wien (Epilog)

Ich telefonierte paar Wochen später mit Fräulein Urbanczyk. Sie hatte mittlerweile mit ihrem Freund, Markus Mayer hieß er, Schluß gemacht (ob sich der Papa durchgesetzt hat?) und konnte ihm also nichts ausrichten. Nein, Telefon hatte er nicht. Ich habe nie wieder was von ihm gehört.
Die Kooperation mit der TU Wien drückte ich einem meiner Mitarbeiter auf, mit der Maßgabe, nicht mehr als einen halben Tag pro Monat darauf zu verschwenden. Dienstreisen mitgerechnet, versteht sich.
Mein Chef wurde im gleichen Jahr geschaßt, weil er ein Großprojekt in den Sand gesetzt hatte. Ich kriegte einen Neuen, mit dem ich viel besser ausgekommen bin. Er konnte mit Widerspruch umgehen und diese Eigenschaft hatte er bei mir dringend nötig. Ich konnte wunderbar mit ihm streiten.
Und ich? Ich bin immer noch bei Dingenskirchens GmbH tätig, wobei das Ende schon in Sicht ist. Irgendwann, wenn man merkt, daß Veränderungen zwar jede Menge Neues aber nicht unbedingt was Besseres mit sich bringen, wird man klüger. Oder man resigniert, wenn Sie so wollen. Jedenfalls, nach einer Republikflucht, vier Jobwechseln, einer späten Scheidung und der Rauchentwöhnung vor zehn Jahren ist mein Bedarf an Veränderungen fürs erste gedeckt. Ich werde mir daher noch ein halbes Jahr oder so Zeit lassen, bevor ich meine eigene Firma aufmache…
Fast hätte ich es vergessen: Ana hat ihren Esel leider verkauft. Als 75-jährige alleinstehende Witwe hatte sie angeblich genug zu tun mit ihren Schweinen, Kühen, Schafen und sonstigen Viechern.

Sonntag, 5. März 2006

Ein Esel in Wien (2)

Der Esel war eindeutig Anas treuer Begleiter, das konnte ich an seinem Gesicht zweifelsfrei erkennen, obwohl er jetzt auf einmal - weiß der Teufel warum - weiß war. Diese Erkenntnis beruhigte mich irgendwie, denn sie gab mir zumindest einen Grund, warum ich auf einmal die Last der Verantwortung für einen Esel tragen mußte. Er, ein Landesel aus den Karpaten, war hier ganz allein in einer fremden Großstadt. Was hätte ich denn tun sollen?
Der Wecker klingelte und unterbrach meine logischen Überlegungen.
Nach dem Frühstück zahlte ich die Hotelrechnung, erfuhr mit großer Erleichterung, daß die TU bloß etwa 10 Gehminuten entfernt war, trug meinen Koffer ins Auto und ließ das Prachtstück auf dem Hotelparkplatz stehen.
Um acht traf ich dann pünktlich beim Prof. Dr. Ing. Urbanczyk ein, einem großen Blonden mit scharf geschnittenem Gesicht, schütterem Haar und einer sehr affektierten Art zu sprechen. Sein Mitarbeiter Dr. Bittner war ein gemütlicher kleiner Kerl mit Brille, der ständig lächelte und für seine geringe Gestalt viel zu große Gesten machte. Wir unterhielten uns knapp eine Stunde über den Stand der Versuche, wobei es mir nach und nach klar wurde, daß die Zwei genauso scharf auf diese Kooperation waren wie ich auch. Sie gehörten nämlich zu diesem narzißtischen Wissenschaftlertyp, der nichts anderes will, als publizieren und im Rampenlicht der Kongresse und Hörsäle stehen. Im tiefen Inneren hatten sie ohnehin kein besonderes Vertrauen zu ihrer Technologie im Hinblick auf eine Weiterentwicklung zum kommerziellen Produkt. Und die Dreckarbeit, um sie vielleicht doch dahin zu entwickeln, die wollten sie erst recht nicht machen, auch für viel Geld nicht.
Nach dieser einen Stunde wurde ich dann in Einweg-Schutzkleidung samt Kopfhaube gesteckt und durch die Reinraumlabors geschleift, wo überall lauter junge Mitarbeiter zugange waren. Ich schüttelte jede Menge Hände, darunter auch die zierliche Hand von Fräulein Urbanczyk, der Tochter des Professors, besichtigte eine Anlage nach der anderen und erfuhr nichts, was ich nicht schon vorher gewußt hätte.
Um halb eins waren wir dann durch. Der Urbanczyk bot mir an, mich in die Mensa mitzunehmen. Ich bedankte mich, log, daß ich bereits um drei zurückfliegen wollte und verabschiedete mich.
Ich mußte unbedingt eine rauchen.
Auf dem Weg nach draußen entdeckte ich eine Cafeteria. Ich holte mir an der Theke einen doppelten Espresso, setzte mich, zündete eine Marlboro an und hoffte, unentdeckt zu bleiben.
Ein junger Mann mit einer Kaffeetasse in der Hand näherte sich.
"Sie sind doch der Herr aus Deutschland, oder? Ich habe Sie im Aquarium… ähem… im Labor gesehen, glaube ich. Mit dieser Schutzkleidung ist es nicht leicht, jemanden wiederzuerkennen."
Sein Gesicht sagte mir gar nichts.
"Ja, der bin ich. Setzen Sie sich doch. Aquarium, also? Passender Name." Die Labors, die ich gerade besichtigt hatte, waren auf der ganzen Länge durch große Glasscheiben vom Korridor aus einsehbar. Die Trennwände zwischen den verschiedenen Sektionen waren ebenfalls aus Glas.
"Schrecklich, so arbeiten zu müssen. Wann geht's wieder heim?"
"Erst heute abend, ich will mir noch ein bißchen die Stadt anschauen."
"Wollen Sie etwas bestimmtes sehen, oder nur so?"
"Nur so. Einfach durch die Stadt spazieren."
"Wenn Sie mögen, führe ich Sie ein bißchen herum. Wenn man wenig Zeit hat, ist eine Besichtigung mit einem Eingeborenen zusammen viel effektiver." Beim Wort "Eingeborenen" lächelte er kurz.
Der Vorschlag kam etwas überraschend. Leichtes Mißtrauen kam auf, ich verdrängte es aber schnell, denn der junge Mann gefiel mir irgendwie.
"Sehr gern, wenn es Ihnen nichts ausmacht" sagte ich.
"Wenn Sie vorher etwas essen wollen, bringe ich Sie in die Mensa. Ich habe schon gegessen."
"Nein, bloß nicht in die Mensa! Ich habe den Urbanczyk nämlich angelogen, daß ich um drei schon abfliege. Ich hole mir gleich ein Belegtes von der Theke."
Er zeigte mir in den kommenden Stunden so viel von Wien, wie ich alleine nicht in einem Jahr hätte entdecken können. Er führte mich von einem Innenhof zum anderen, brachte mich in verschiedene Museen, zeigte mir enge Gassen, wo früher die Tuberkulose grassierte und wo man den Himmel nicht sehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken, und auch weite Plätze und prächtige Paläste. Wir tranken zwischendurch einen Mokka in einem Caféhaus. Er erzählte mir in gewählten Worten von verschiedenen Adelsgeschlechtern, Freimaurern, Künstlern und Wissenschaftlern, die in Wien gelebt hatten, von der politischen Entwicklung vor und nach dem ersten Weltkrieg und auch von der Judenverfolgung.
"Der typische Wiener bringt das Kunststück fertig" sagte er wieder mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht, "weltoffen im Großen und xenophob im Kleinen zu sein, manchmal aber auch umgekehrt."
Solche Bemerkungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eine sehr innige Beziehung zu dieser Stadt und zu ihren Menschen hatte und unwahrscheinlich viel darüber wußte. Er konnte Namen, Daten und Fakten aus dem Ärmel schütteln, daß es einem schwindlig werden konnte. Und das alles verschwendete er an mir.
Später begleitete er mich zum Hotelparkplatz, denn ich mußte langsam zum Flughafen fahren. Er beäugte meine Karosse, sagte aber nichts dazu. Wir verabschiedeten uns.
Während der Fahrt fiel mir auf, daß ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.
In den nächsten Tagen versuchte ich vergebens, herauszufinden, wer er war, indem ich sowohl Urbanczyk als auch seine Mitarbeiter ausfragte. Niemand konnte mir sagen, wer der junge Mann war. Es hieß nur: nicht aus unserer Arbeitsgruppe.
In der Woche darauf rief mich der Urbanczyk an.
Wir einigten uns darüber, die Kooperation neu zu ordnen und die ehrgeizigen Ziele meines Chefs zurechtzustutzen. Als wir mit den dienstlichen Themen durch waren, sagte er beiläufig:
"Übrigens, ich weiß jetzt, wer der junge Mann ist, nach dem Sie gefragt haben. Er ist Philologiestudent und der Freund meiner Tochter, sozusagen mein Schwiegersohn in spe." Er schien über diese Tatsache nicht besonders erfreut zu sein.
"Daher also! Ich hielt ihn für einen Institutsangehörigen. Ich habe mich gewundert, daß er so viel über Wien weiß."
"Er war an dem Tag nur zu Besuch da. Ja, darüber weiß er wirklich viel. Ich kann mir vorstellen, daß sie einen interessanten Nachmittag verbracht haben."
"Die Jugend von heute! Dabei habe ich ihn gebeten, meine Notlüge nicht zu verraten!"
"Das hat er gar nicht. Meine Tochter hat sich verplappert."
Die Frage, die ich ihm noch stellen wollte, verkniff ich mir. Ich konnte nur hoffen, daß er von der Zuhälterkarosse nichts erfahren hatte.

Donnerstag, 2. März 2006

Ein Esel in Wien (1)

Anfang der 90er Jahre. Meine bewegte Schaffensperiode bei Dingenskirchens GmbH.
Ich warf die Arbeitsmappe mit dem Titel "Kooperation TU Wien" in die Aktentasche, prüfte flüchtig das Flugticket und das Fax mit der Hotelreservierung, schloß ab und ging. Ich mußte noch packen, mich umziehen und dann nach Frankfurt fahren, wo ich die 20 Uhr Lufthansa Maschine nach Wien nehmen wollte.
Ich mochte diese Kooperation nicht. Meinen damaligen Chef (Gott bewahre vor fleißigen Idioten), der sie anläßlich eines Kongresses zwischen Tür und Angel eingefädelt hatte, mochte ich noch weniger.
Vor der Rheinbrücke gab's prompt den ersten Stau, der mich vierzig Minuten kostete. An Duschen und Umziehen war jetzt nicht mehr zu denken. Ich bugsierte Kulturtasche und sonstige Klamotten in einen kleinen Koffer und fuhr gleich wieder los.
Der zweite Stau, den es auf der A67 kurz vor Gernsheim gab, schien, obwohl der Verkehrsfunk hier nichts meldete, eine größere Sache zu sein. Ich verfluchte noch einmal das Projekt, meinen Chef, den Verkehrsfunk, den Idioten, der mich bei meiner Fahrt auf dem Standstreifen bis zur Ausfahrt Gernsheim anhupte, und fuhr über die Dörfer zur parallel verlaufenden A5. Noch hätte ich es schaffen können. Dann kam vor dem Darmstädter Kreuz der dritte Stau, der mir sozusagen den Rest gab.
Jetzt stand ich am Lufthansaschalter und beriet mich mit einer Dame schwarzer Hautfarbe, die komischerweise Krüger oder ähnlich hieß und ein perfektes Deutsch sprach, über die verbleibenden Möglichkeiten, heute doch noch nach Wien zu kommen. Es gab keinen weiteren Flug an diesem Abend, ich hatte zu wählen zwischen Graz und Linz, Weiterfahrt im Mietwagen inbegriffen. Also wählte ich Linz. Hier angekommen tingelte ich von einer Autovermietung zur anderen und fragte nach einem Wagen. Nichts da, alles reserviert. Am InterRent Schalter (damals gab es die noch) thronte eine elegante Brünette, die mich an Miss Moneypenny aus den älteren James Bond Filmen erinnerte.
"Haben Sie einen Mietwagen für mich? Ich habe keine Reservierung." Mittlerweile hatte meine Frage einen leicht flehenden Unterton angenommen.
"Sie haben aber Glück, gerade ist einer zurückgegeben worden. Das ist hier ein bißchen schwierig ohne Reservierung. Die meisten unserer Wagen werden in Wien zurückgegeben, wir haben hier immer nur das Allernotwendigste."
"Sie sind meine Rettung!" Daraufhin guckte sie mich streng über die Lesebrille an. Ich reichte ihr Paß und Führerschein über das Pult rüber.
"Was ist das für ein Auto? Ich nehme alles bis auf Opel!"
"Das ist ein... Mercedes 280 SL Automatik, Farbe… weiß."
"Moment mal. Ist das nicht der Pagoden-Mercedes?"
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
"Ich glaube, ja. Zweisitzer jedenfalls."
"Das wollen Sie mir doch nicht antun! Da wäre mir sogar ein Opel lieber."
Jetzt lächelte sie gar.
"Ich habe aber wirklich nichts anderes da."
"Dann nehme ich's, in Gottes Namen." Ich schloß alle möglichen Zusatzversicherungen ab, was sich zusammen mit der Miete zu einem hübschen Sümmchen addierte, lächelte etwas verlegen, nahm Schlüssel und Papiere mit und verschwand.
Als ich vom Parkplatz auf die Straße fuhr, bremste ich ab und versuchte gleichzeitig, auszukuppeln, wobei ich mit dem linken Fuß natürlich volle Kraft auf das fast vierzig Zentimeter breite Bremspedal trat. Die verdammte Zuhälterkarrosse blieb mit einem Schlag stehen, als wäre ich auf eine Mauer aufgefahren. Ich schloß Daimler Benz, das Automatikgetriebe, die Firma InterRent und alle Zuhälter dieser Welt in die Reihe meiner Verwünschungen ein, und dies wiederholte ich später mit noch mehr Nachdruck, als ich bei höheren Geschwindigkeiten starke Rollgeräusche vernahm. Auf der Autobahn traute ich mich nicht, schneller als 120 zu fahren, denn das Lenkrad der Pagode vibrierte bedenklich. ("Sie haben einen Bremsplatten gehabt" sagte man mir bei der Rückgabe des Wagens am nächsten Tag in Wien. Einer meiner Vorgänger hatte wohl eine Vollbremsung veranstaltet. Das Schmuckstück hatte, ob Sie's glauben oder nicht, jede Menge Wurzelholz und Leder, jedoch kein ABS zu bieten.)
Ich kam in Wien kurz nach eins an. Als die Autobahn endete, fuhr ich einfach geradeaus in Richtung Zentrum weiter, in der Hoffnung, daß mein Hotel (das den Namen irgendeines Adligen trug) einigermaßen zentral gelegen wäre. Ich hielt gerade nach einer Tankstelle Ausschau, um nach dem Weg zu fragen, als ich merkte, daß ich schon in der richtigen Straße war. Im Hotel angekommen, parkte ich meine Karosse auf dem Hotelparkplatz, klingelte den Portier raus, schnappte mir den Schlüssel und ging aufs Zimmer. Hier fiel mir auf, daß ich vergessen hatte, mich wecken zu lassen, war zu müde oder zu feige, um den Portier noch einmal zu wecken, und stellte den Radiowecker vom Nachttisch auf 6:30 h ein. Das Glockensymbol tauchte kurz auf und verschwand wieder. Ich machte das Ganze noch einmal mit dem gleichen Ergebnis, dann erklärte ich dem Wecker, daß es mir völlig wurscht sei, ob er morgen klingele oder nicht und ging schlafen. Ich guckte natürlich die ganze Nacht etwa alle zehn Minuten auf die Uhr. Dazwischen hatte ich jedoch genug Zeit, um irgendwas wirres von einem weißen Esel zu träumen, den ich durch die Straßen von Wien am Zügel führen mußte.
--Fortsetzung folgt--

Donnerstag, 23. Februar 2006

Der maghrebinische Freund

Neulich habe ich nach langer Zeit meinen ehemaligen Arbeitskollegen Dr. Dipl. Ing. Magdy Abdel Kassar, den Ägypter, wieder getroffen. Er hatte etliche Kilo zugelegt und die meisten seiner Haare verloren, war aber ansonsten unverändert: großspurig, jovial, prahlerisch. Er ist nach wie vor der Meinung, daß Frauen auf ihn fliegen, was früher sicherlich auch der Fall war. (Heute steht zumindest fest, daß Kinder auf ihn fliegen, sie sind von seiner riesigen Gestalt einfach fasziniert, er ist für sie eine Art freundlicher, kuscheliger Godzilla.) Diesmal fragte er mich nicht, ob "es" bei mir noch läuft, diese Standardfrage war ansonsten in jedem Telefongespräch unvermeidlich.
Wir schlenderten eine Weile durch die Strassen der Büdinger Altstadt und sprachen von der guten alten Zeit bei der Firma Soledo, von meiner Scheidung, vom Irakkrieg, und auch von anderen Sachen in der Art. Ich mußte jede Menge Ratschläge, Feststellungen wie "Die Türken sind ein dummes Volk" oder „Die Gründung des jüdischen Staates war ein historischer Fehler“ und ähnliche Weisheiten einstecken.
„Apropos Juden. Kannst Du Dich erinnern, wie man Dich am Flughafen festgehalten hat?“ fragte ich ihn. Mitte der Achtziger waren wir einmal dienstlich zusammen nach Berlin geflogen, denn wir hatten in unserem Berliner Werk paar Projekte laufen. Am Flughafen Tegel wurde er ohne Angabe von Gründen vom Bundesgrenzschutz fast drei Stunden festgehalten. Dabei war wohl nicht nur sein arabisch klingender Name, sondern auch sein ausgeprägt „ausländisches“ Aussehen schuld, denn Freund Magdy hat ein ziemlich dunkles Teint, fast wie ein Nubier. Ich leistete ihm aus Solidarität und zur Belustigung der Beamten („Hier hast Du auch einen Freiwilligen, Willi!“) Gesellschaft. Den gemeinsamen Termin beim Werkleiter konnte ich telefonisch auf den Nachmittag verlegen.
„Die Idioten! Was sollte das sein? Nur weil der Schamir zu Besuch kam! Die Arschlöcher! Warum wollten sie uns nicht sagen, was los war?“ Das mit Schamirs Besuch erfuhren wir in der Tat erst, als man uns bzw. ihn gehen ließ. Seine geringschätzige Meinnung über die Grenzschützler hinderte ihn aber nicht daran, sie die ganze Zeit mit heiteren Geschichten zu unterhalten.
„Kannst Dich auch an die Autofahrt mit Grümer erinnern? Den Ersten bis fünfzig, den Zweiten bis hundert, und dann direkt in den Vierten schalten?“
„Grümer! Hast Du das gesehen? So ein Idiot! Aber das Essen war in Ordnung.“
Grümer, der Werkleiter, chauffierte uns am Abend nach der Besprechung auf Sightseeing durch ganz Berlin. Zwei Stunden lang zeigte er uns eine Sehenswürdigkeit nach der anderen und redete unentwegt. Auf der Stadtautobahn, wo die Geschwindigkeit fast überall auf 80 begrenzt war, fuhr er im Schnitt 140. Er entschuldigte sich mehrmals, daß er uns im kleinen Golf seiner Frau fahren mußte, weil seine Audi 200 Dienstlimousine ausgerechnet heute gewartet wurde. Dabei hätte er sich lieber wegen seiner Fahrweise bei seiner Frau oder beim Golf entschuldigen müssen. Wie auch immer, mit seiner Hilfe besichtigte ich zum ersten mal auch die Mauer, konnte auf eine Aussichtsplattform klettern und von oben die Grenzanlagen betrachten. Der Abend endete dann auf dem Kurfürstendamm im „Klein Paris“ bei Kalbfleisch mit Estragonsauce und Reis. Dazu tranken wir Weißwein. Göttlich.
Aber ich schweife ab. Kehren wir zurück nach Büdingen, lieber Leser, wo’s am Tag meines Treffens mit Magdy irgendein obskures Fest gab. Die Geschäfte waren daraufhin alle offen, mit Straßenverkauf und sonstigem Drum und Dran, obwohl es Sonntag war. Wir mischten uns in die bunte Menschenmenge und quatschten weiter.
Auf einmal erblickte ich auf einem Kleiderständer eine Jacke, die nicht nur gut aussah, sondern auch erheblich preisreduziert war. In meiner Größe gab’s aber nur ein Exemplar, und ausgerechnet diesem fehlte ein Knopf.
"Das dürfte kein Problem sein, nimm sie. Hier hast Du Deinen Knopf" sagte Magdy zu mir, nachdem er einen von einer anderen Jacke gleichen Models einfach abriß und ihn mir großzügig anbot. Verschämt steckte ich den Knopf schnell in meine Hosentasche. An der Kasse versuchte mein Begleiter mit Erfolg, wegen des fehlenden Knopfes den Preis noch weiter zu drücken, sprach mit der Verkäuferin über seine unmögliche Kleidergröße, lachte viel, steckte ein paar Rabattmarken ein und half mir bei der Geldübergabe aus.
Irgendwann brachte ich ihn zu seinem Hotel zurück und fuhr dann nach Hause.
Als ich hier meine Beute betrachtete, stellte ich fest, daß der abgerissene metallene Knopf kaputt war. Der Drahtbügel auf seiner Rückseite war herausgerissen und hing wohl noch am Nähgarn, an der falschen (oder, je nach Standpunkt, richtigen) Jacke.
Kleinigkeit, dachte ich mir, so was kann ich reparieren.
Zu einer Reparatur kam es jedoch nicht. Meine Katze Felicia, die von runden Gegenständen wie Münzen, Knöpfen, Nähgarnspulen und Wollknäueln magisch angezogen wird, klaute ihrerseits den Knopf von meinem Schreibtisch weg. Sie spielte eine Weile damit im Flur, wobei sie unüberhörbar mit dem Kopf gegen sämtliche Türen rannte, bis sie ihn schließlich hinter irgendeinem Möbelstück verlor. Ich habe ihn nicht mehr gefunden. Muß wohl im Bauch eines Staubsaugers und anschließend im Müll gelandet sein.
Das Verbrechen lohnt eben nicht.

Dies ist mein Beitrag zur Aktion "Ich bin ein Faschingskrapfen" des "Clubs der habtoten Dichter". (Leider habe ich einen viel schöneren Namen der Aktion durch eine dumme Bemerkung verhindert.)

Sonntag, 19. Februar 2006

Styria

Es passierte im Spätsommer des vorletzten Jahres. Ich mußte wieder nach Graz.
Diesmal habe ich meinen Grazer Kollegen nicht erzählt, daß ich schon am Vortag unserer Besprechung komme, ich hätte nämlich auch die Frühmaschine aus Frankfurt nehmen können. Obwohl ich die meisten gut leiden konnte, hatte ich an diesem Tag einfach keine Lust, wieder mal auf den Schloßberg geschleppt zu werden und anschließend beim Essen noch Konversation machen zu müssen.
Im Hotel angekommen, ging ich kurz aufs Zimmer, erstattete zuhause Meldung, und ging gleich essen.
Es war angenehm warm. Die Innenstadt war belebt. Ehrwürdige Häuser mit vertrauter Architektur zeigten im Abendlicht dezent ihre Fassaden. Elegant gekleidete Frauen und Männer fuhren ihre Autos aus den Höfen auf die Strasse, hielten dann an und liefen zurück, um die schweren metallbeschlagenen Tore zu schließen, die die Innenhöfe vor neugierigen Blicken schützen. An einer Straßenecke vor dem Rathaus spielte eine echt ungarische Zigeunerkapelle echt ungarische Zigeunermusik.
Ich fand in einem Innenhof mit Torbogeneinfahrt ein chinesisches Restaurant mit einer kleinen Terrasse. Das war nicht unbedingt meine kulinarische Präferenz, der Hof gefiel mir aber sehr gut. Dreistöckige Häuser mit alten Holzfenstern umsäumten den gepflasterten Hof, der klein genug war, um gemütlich zu wirken, aber groß genug, um noch einigermaßen hell zu sein. Die hohen Mauern waren in einem gelblichen Farbton gestrichen, den man nur mit den alten Kalkfarben hinkriegt. Das Pflaster war ein wirkliches Wunder aus Naturstein.
(Da ich gerade im Begriff war, eine schwerwiegende Entscheidung bezüglich meines Terrassenbelags zu treffen, hatte ich zu dieser Zeit einen geologischen oder besser gesagt petrographischen Tick. Ich habe bei diesem kurzen Besuch in Graz so viele wunderbare Steine gesehen, vom Marmor und Onyx im Hotelbadezimmer bis hin zu Granit, Basalt und Porphyr auf den Strassen, so daß ich schlicht überwältigt war.)
Ich setzte mich auf die Terrasse und bestellte bei einer jungen Chinesin mit Zöpfenfrisur ein Pils - was mir die Bemerkung einbrachte, ich sei wohl Deutscher - und "Acht Kostbarkeiten".
Ein Sperling landete auf der Stuhllehne mir direkt gegenüber. Dann hüpfte er nacheinander auf alle anderen Stuhllehnen und gelegentlich auch auf den Boden. Es war ein Männchen, mit prächtigem braun-grauen Gefieder und gut im Futter. Dann kam er zurück, denn ich war unverkennbar der einzige Gast auf der Terrasse. Er neigte den Kopf, um mich zu beäugen, und tat das eine zeitlang ziemlich unverblümt. Ich prostete ihm zu. Jetzt schien er einen Entschluß gefaßt zu haben und flog in einem unwahrscheinlich steilen Winkel nach oben, auf die Dächer. Kaum zu glauben, daß ein so plump wirkender Vogel solche Kunststücke vollbringt.
Dann kam nicht nur mein Essen, sondern auch Besuch. Eine zierliche Sperlingsdame mit samtenem Gefieder landete auf der Stuhllehne und hüpfte sogleich auf den Tisch. Sie streckte den Hals und lugte über meinen Teller hinweg zur Reisschale, dann drehte sie den Kopf und blickte mich fest an. Ich breitete eine Papierserviette aus und tat einen Löffel Naturreis darauf. Noch während ich dabei war, die Reiskörner herauszuschütteln, fing sie an, sich den Schnabel ganz methodisch mit Reis vollzuladen. Mir fällt einfach kein besseres Wort ein, denn sie schluckte kein einzelnes Korn herunter, sondern nahm einfach so viele auf, bis sie merkte, daß es nicht mehr geht. Dann flog sie nach oben weg, auf die Dächer, und die unbeschreibliche Intimität dieser Begegnung war zu Ende. Die junge chinesische Kellnerin grinste mich aus der Restauranttür an.
Ich bestellte noch ein Bier. Die Terrasse füllte sich langsam. Eine Horde von etwa zwanzig Studenten besetzte geräuschvoll die Tische in meiner Nähe. Es wurde deutsch, englisch, italienisch, etwas, das ich für serbokroatisch hielt und noch eine arabisch anmutende Sprache gesprochen. Der chinesische Besitzer kam raus und sagte "Servus" zu der Meute, offenbar kannte man sich.
Ich hatte inzwischen drei Sperlingsweibchen auf meinem Tisch, die ungefähr die Hälfte meiner Reisportion beanspruchten. Das Grinsen der chinesischen Kellnerin wurde noch breiter. Als sie abräumte, ließ sie die Serviette, auf der noch einige Reiskörner waren, mit den Worten liegen: "Vielleicht kommen die noch!". Und sie kamen.
Ich saß da, trank mein Bier und dachte über dies und jenes nach. Felix Austria! Ich hatte einen wunderbaren Tag in Graz erlebt. Wo war das Häßliche, das Böse, das Unappetitliche? Vielleicht woanders, aber nicht hier. Ich trank noch ein Bier oder zwei und ging dann schlafen.

Montag, 13. Februar 2006

Opa

Opa ist 78. Und daß er dieses Alter überhaupt erreicht hat, bedeutet noch lange nicht, daß er sich nicht alle Mühe gegeben hat, um es zu verhindern. Nach seiner Nachtschicht im Chemiewerk ging er gleich in eine nahegelegene Holzbearbeitungsfabrik weiterschaffen, um etwas dazuzuverdienen. Dreißig Jahre lang. In seiner freien Zeit baute er ein Haus, und als dieses halb fertig war, baute er noch ein Stallgebäude und fing so nebenbei mit der Hühnerfarm an. Von diesem Opa, einem Meister der Selbstüberschätzung und Unvernunft, handelt meine folgende Geschichte.

Das Telefon klingelte. Vera ging ran und hörte eine Weile einfach zu. Lautes Heulen und zwischendurch genauso lautes Geschnatter drang bis zu mir. Das Gespräch war dann bald zu Ende.
"Geh bitte rüber und guck nach Papa. Nora hat gerade angerufen, er kriegt wieder keine Luft. Diesmal soll's aber ganz schlimm sein. Sie und Mama wollten den Notarzt rufen, er hat sich aber geweigert." Das Letzte, was Opa in den Sinn käme, wäre, auf eine Frau zu hören.
Ich lief durch den Garten aufs Nachbarsgrundstück und ging durch die Terrassentür rein.
Opa saß nach vorne gebeugt auf der Couch, stützte sich mit beiden Fäusten auf den Marmortisch und rang nach Luft. Sein Atem war eine Mischung aus Pfeifen und Röcheln. Sein Gesicht und die Glatze waren bläulich gefärbt und klitschnaß.
"Ganz ruhig! Atme ganz ruhig weiter!" rief ich im Vorbeigehen, indem ich ihm auf die Schulter klopfte. Er nickte. Ich rannte zum Telefon und rief die Notrufzentrale an. Während meines Telefonats erzählte mir die Oma, sie hätte seinen Hausarzt verständigt, der bereits unterwegs wäre. Vom Notarzt wollte der Opa nichts wissen.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war der Hausarzt schon da. Er gab ihm ein paar Spritzen und zwei rote Kapseln, die er mit den Zähnen zerdrücken sollte.
"Er muß sofort ins Krankenhaus. Ich rufe den Notarzt an."
"Habe ich bereits getan. Die sind schon unterwegs."
Der Rettungswagen stand einige Minuten später schon vor dem Tor.
"Asthma, dazu Herzinsuffizienz. Puls 180, Blutdruck 240/130" sagte der Hausarzt. Opa kriegte eine Sauerstoffmaske, eine Infusionsnadel und ein paar Spritzen verpaßt, wurde auf die Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben.
"Wo fahrt Ihr hin?"
"Asklepiosklinik."
Ich lief zurück und erzählte Vera schnell das Geschehene, dann setzten wir uns ins Auto und fuhren selbst ins Krankenhaus. Wir kamen gerade rechtzeitig. Opa lag bereits in einem Krankenbett und sollte auf die Intensivstation. Wir fuhren zusammen mit den Sanitätern und dem Notarzt im Lastenaufzug mit.
Der Opa versuchte immer wieder, aufzustehen und wollte offenbar weglaufen.
„Nun mach schon. Langsam ist’s höchste Zeit" sagte der Arzt zum quietschenden Fahrstuhl.
Das Bett wurde in die Intensivstation geschoben. Bevor die Schiebetür schloß, konnte ich sehen, wie die Schwester mit Opa kämpfte, der wieder aufstehen wollte.
"Das wird ihm eine Lehre sein" sagte Vera auf dem Weg nach Hause. "Seit Wochen nimmt er seine Pillen nicht. Und sein Spray macht ihn angeblich müde. Dafür klettert er auf die Leiter, um diese Scheißkiwi zu ernten. Ich hoffe, daß er diesmal richtig Angst gekriegt hat und endlich vernünftig wird."
Das hoffte ich auch, denn sein Verhalten konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen. Das mit den Kiwibäumen (dieses Jahr hatte er drei volle Schubkarren geerntet) war noch nichts im Vergleich mit den Erdbewegungen, die er im Gemüsegarten veranstaltete.
Ja, der Opa hat diesmal einen richtigen Schreck gekriegt. Er rang die ganze Nacht mit dem Tod, und der Erstickungstod ist alles andere als angenehm. Die Folgen davon waren aber ganz anders, als wir uns das vorgestellt haben, denn Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Er wurde nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen.
Am Tag darauf fällte er die - bis auf seine geliebten Kiwibäume - letzten Bäume auf seinem Grundstück, eine ziemlich große Eibe und einen nicht viel kleineren Wachholder. Dies geschah natürlich in der Zeit, in der Vera und ich bei der Arbeit waren und nicht widersprechen konnten.
Die Kettensäge war jetzt Dank meiner Pflege gut im Schuß, so daß die Bäume sehr schnell fielen. Zu schnell vielleicht? Die Eibe machte eine ziemliche Delle in die Regenrinne vom Wintergarten und der Wachholder zerstörte Opas "Tomatenverschlag", eine Eigenkonstruktion aus rostigen Rohren, Holzpfählen und Kunststoffplatten, die mit Hilfe von Unmengen Elektrokabel (es hingen sogar ein paar Stecker dran) zusammengehalten wurde.
Die Säge war echt gut im Schuß. Gegen Ende der Aktion sägte er das Kabel mit einem absolut sauberen Schnitt durch.
Jawohl, Opa lebte noch. Und sein Schutzengel offensichtlich auch.

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