Styria

Es passierte im Spätsommer des vorletzten Jahres. Ich mußte wieder nach Graz.
Diesmal habe ich meinen Grazer Kollegen nicht erzählt, daß ich schon am Vortag unserer Besprechung komme, ich hätte nämlich auch die Frühmaschine aus Frankfurt nehmen können. Obwohl ich die meisten gut leiden konnte, hatte ich an diesem Tag einfach keine Lust, wieder mal auf den Schloßberg geschleppt zu werden und anschließend beim Essen noch Konversation machen zu müssen.
Im Hotel angekommen, ging ich kurz aufs Zimmer, erstattete zuhause Meldung, und ging gleich essen.
Es war angenehm warm. Die Innenstadt war belebt. Ehrwürdige Häuser mit vertrauter Architektur zeigten im Abendlicht dezent ihre Fassaden. Elegant gekleidete Frauen und Männer fuhren ihre Autos aus den Höfen auf die Strasse, hielten dann an und liefen zurück, um die schweren metallbeschlagenen Tore zu schließen, die die Innenhöfe vor neugierigen Blicken schützen. An einer Straßenecke vor dem Rathaus spielte eine echt ungarische Zigeunerkapelle echt ungarische Zigeunermusik.
Ich fand in einem Innenhof mit Torbogeneinfahrt ein chinesisches Restaurant mit einer kleinen Terrasse. Das war nicht unbedingt meine kulinarische Präferenz, der Hof gefiel mir aber sehr gut. Dreistöckige Häuser mit alten Holzfenstern umsäumten den gepflasterten Hof, der klein genug war, um gemütlich zu wirken, aber groß genug, um noch einigermaßen hell zu sein. Die hohen Mauern waren in einem gelblichen Farbton gestrichen, den man nur mit den alten Kalkfarben hinkriegt. Das Pflaster war ein wirkliches Wunder aus Naturstein.
(Da ich gerade im Begriff war, eine schwerwiegende Entscheidung bezüglich meines Terrassenbelags zu treffen, hatte ich zu dieser Zeit einen geologischen oder besser gesagt petrographischen Tick. Ich habe bei diesem kurzen Besuch in Graz so viele wunderbare Steine gesehen, vom Marmor und Onyx im Hotelbadezimmer bis hin zu Granit, Basalt und Porphyr auf den Strassen, so daß ich schlicht überwältigt war.)
Ich setzte mich auf die Terrasse und bestellte bei einer jungen Chinesin mit Zöpfenfrisur ein Pils - was mir die Bemerkung einbrachte, ich sei wohl Deutscher - und "Acht Kostbarkeiten".
Ein Sperling landete auf der Stuhllehne mir direkt gegenüber. Dann hüpfte er nacheinander auf alle anderen Stuhllehnen und gelegentlich auch auf den Boden. Es war ein Männchen, mit prächtigem braun-grauen Gefieder und gut im Futter. Dann kam er zurück, denn ich war unverkennbar der einzige Gast auf der Terrasse. Er neigte den Kopf, um mich zu beäugen, und tat das eine zeitlang ziemlich unverblümt. Ich prostete ihm zu. Jetzt schien er einen Entschluß gefaßt zu haben und flog in einem unwahrscheinlich steilen Winkel nach oben, auf die Dächer. Kaum zu glauben, daß ein so plump wirkender Vogel solche Kunststücke vollbringt.
Dann kam nicht nur mein Essen, sondern auch Besuch. Eine zierliche Sperlingsdame mit samtenem Gefieder landete auf der Stuhllehne und hüpfte sogleich auf den Tisch. Sie streckte den Hals und lugte über meinen Teller hinweg zur Reisschale, dann drehte sie den Kopf und blickte mich fest an. Ich breitete eine Papierserviette aus und tat einen Löffel Naturreis darauf. Noch während ich dabei war, die Reiskörner herauszuschütteln, fing sie an, sich den Schnabel ganz methodisch mit Reis vollzuladen. Mir fällt einfach kein besseres Wort ein, denn sie schluckte kein einzelnes Korn herunter, sondern nahm einfach so viele auf, bis sie merkte, daß es nicht mehr geht. Dann flog sie nach oben weg, auf die Dächer, und die unbeschreibliche Intimität dieser Begegnung war zu Ende. Die junge chinesische Kellnerin grinste mich aus der Restauranttür an.
Ich bestellte noch ein Bier. Die Terrasse füllte sich langsam. Eine Horde von etwa zwanzig Studenten besetzte geräuschvoll die Tische in meiner Nähe. Es wurde deutsch, englisch, italienisch, etwas, das ich für serbokroatisch hielt und noch eine arabisch anmutende Sprache gesprochen. Der chinesische Besitzer kam raus und sagte "Servus" zu der Meute, offenbar kannte man sich.
Ich hatte inzwischen drei Sperlingsweibchen auf meinem Tisch, die ungefähr die Hälfte meiner Reisportion beanspruchten. Das Grinsen der chinesischen Kellnerin wurde noch breiter. Als sie abräumte, ließ sie die Serviette, auf der noch einige Reiskörner waren, mit den Worten liegen: "Vielleicht kommen die noch!". Und sie kamen.
Ich saß da, trank mein Bier und dachte über dies und jenes nach. Felix Austria! Ich hatte einen wunderbaren Tag in Graz erlebt. Wo war das Häßliche, das Böse, das Unappetitliche? Vielleicht woanders, aber nicht hier. Ich trank noch ein Bier oder zwei und ging dann schlafen.
wuestenfloh - 19. Feb, 10:58

Schön! Wirklich.

fely - 19. Feb, 12:50

Freut mich, wenn's Dir gefällt, lieber Wüstenfloh. War gerade in der Werkstatt (ehemaliges Hühnerhaus vom Opa) und habe gelüftet, da es draußen wärmer ist, als drinnen. So ein Zufall, hatte wieder Besuch von einer gefiederten Dame. Gott sei Dank war meine Katze nicht in der Nähe.
neo-bazi - 19. Feb, 11:40

Sehr

schöner Beitrag. Interessanter Link.

fely - 19. Feb, 12:55

Du schmeichelst mir, lieber Opa Edi. Über so was schreibt sich's sehr leicht, wie ich finde. Der Link führt übrigens zu einem meiner persönlichen Feinde. Ich rede aber nicht hinter seinem Rücken, die Geschichte (und auch meine sonstige Meinung) kennt er schon.
dieJulia - 19. Feb, 20:39

Das ist in der Tat eine außerordentlich schöne Geschichte, fely! Sie hat mich grad vom Scheitel bis zu den Sohlen durchgewärmt wie eine große Portion Sonne an einem schönen Junitag... Auch fasziniert mich der "fremde", ein ganz bestimmtes Flair vermittelnde Blick auf Orte, die ich kenne (wobei ich noch nicht sehr oft in Graz war): hast du vielleicht auch eine Wien-Geschichte auf Lager?

Ach, und: wir sagen übrigens auch Pils. Hat aber vielleicht damit zu tun, daß es in den meisten Wirtshäusern Wiens eine recht gediegene Bierkultur gibt, so daß es oft nicht reicht "ein Bier" zu bestellen...

fely - 19. Feb, 22:44

Heute habe ich so viel Lob kassiert, daß ich langsam verlegen werde... Quatsch, das tut natürlich gut.
Eine Geschichte über Wien habe ich auch, bzw. werde ich haben, sobald ich sie geschrieben habe.
Die wird vielleicht nicht so schön, dafür aber lustig!
dieJulia - 19. Feb, 23:35

Verlegen tut man höchstens seine Brille oder die Schlüssel...
Ehre, wem Ehre gebührt!
Ich freu mich schon auf die Wien-Geschichte! Echt.
fely - 20. Feb, 07:16

Das kann aber noch eine Weile dauern, auch wenn's keine Weltraumstory ist...
Jetzt gehe ich erstmal auf einen zweitägigen Workshop.
sun of a beach - 12. Mär, 11:50

Niemals!

Unappetitlich sind Katzen auf Schreib- und Küchentischen (ausgenommen sie tragen Hosen, die den Afterbereich vollständig bedecken), Hunde, die unaufgefordert Gesichter belecken oder Hosenbeine mit Geschlechtspartnern verwechseln.

Internetmagazine sind nicht unappetitlich. Der MA schon gar nicht. Ganz im Gegenteil. Die Berichte werden vom Gros seiner Leser (ca. 87%) sogar als "appetitfördernd" eingestuft. Also, ja, bitte, das nächste Mal entweder besser recherchieren oder auf eine sorgfältigere Wortwahl achten.

MbG

Pan

fely - 12. Mär, 13:18

Was Andere über Katzen, Hunde, Internetmagazine im allgemeinen und den MA im speziellen denken, ist mir (bis auf paar Ausnahmen) ziemlich schnuppe. Und weil ich in diesem Blog schlicht und einfach meine Meinung und nicht die Meinung Anderer vertrete, ist der Vorwurf der mangelhaften Recherche und der falschen Wortwahl irgendwo im Bereich von "nicht haltbar" bis "blödsinnig" anzusiedeln.
Oder ein Scherz.
sun of a beach - 14. Mär, 15:30

Leider!

Eine direkte Antwort auf "felys" Kommentar ist nicht möglich, also nun denn so:

Selbstverständlich ist der MA unappetitlich, weil der Mensch an sich unappetitlich ist (das ihn reflektierende Ding muss es zwangsläufig sein - siehe auch die Schriften von Kant, Immanuel). Es ist doch wohl nur unter Aufbietung höchster Anstrengung möglich, über ein so degeneriertes Subjekt, wie es der Mensch nun mal ist, appetitlich zu schreiben. Der Herausgeber des MAs ist dazu jedenfalls nicht fähig, weil er weder das Wort "Anstrengung" mag, noch die Tätigkeit, die sich dahinter verbirgt.
Er selbst ist, wenngleich nicht appetitlich, so doch wenigstens reinlich. Stets gut rasiert - unter Verwendung nicht gerade billiger Eau de Toilettes -, situiert - seinem Stande entsprechend - gekleidet, täglich frische Unterwäsche anlegend und auf einen ordentlichen, nicht unmilitärischen Haarschnitt achtend.

MbG

Pan
fely - 14. Mär, 16:39

@Pan

Das erinnert mich an Johann Nestroy.
Lassen wir doch das Thema lieber fallen.
sun of a beach - 14. Mär, 17:29

@fely

Oooch, wir Menschen erfinden tagtäglich Parameter zur Kennzeichnung unserer Befindlichkeiten neu.
Ist der Mensch schlecht, wenn ihm das Ableben eines diktatorischen Balkanfürsten ein füchsisches Lächeln entlockt? Ist der Mensch gut, wenn es ihm das Auge unter Wasser setzt, hört er nur vom Ableben des nachbarlichen Hundewelpen?

Moral heißt Wachheit, glaube ich. Und um die Unmoral kann sich wohl niemand kümmern, weil sie soviele Gesichter hat, wie es Menschen gibt.

Aber nun gut: Lassen wir doch das Thema lieber fallen.

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