Sonntag, 12. März 2006

Der Komiker

Der Arzt stürmte rein, gab mir die Hand, sagte "Ich bin gleich bei Ihnen" und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er war eine überaus interessante Erscheinung. Die wenigen Haare, die ihm seine kapitale Glatze übrig ließ, sein sauber gestutzter Vollbart sowie seine glänzenden Augen waren pechschwarz, sein Teint hingegen sehr hell. Ich schätzte ihn auf Anfang Vierzig. Er setzte eine goldene Lesebrille auf, klemmte ein paar Röntgenbilder an die Leuchtscheibe, betrachtete sie eingehend, und fing dann an, in sein Diktiergerät zu sprechen, während er mich über den Brillenrand sehr genau musterte.
Er sagte dabei erst meine persönlichen Daten auf, dann kam ein Schwall von mir unbekannten Fachbegriffen, die jedoch alle von einem beruhigenden "ohne Befund" begleitet wurden. Zum Schluß wurde ich doch wach: "Verdacht auf dentogene Zyste links oben".
Er schaltete das Diktiergerät aus und gab mir nochmals die Hand. "Trottel" dachte ich.
"Sie kommen von Dr. Nickel? HNO? Was haben Sie für Beschwerden?"
"Chronische Rhinitis. Aber ich muß wohl eher zu einem Zahnarzt gehen, merke ich."
"Wie kommen Sie jetzt darauf?"
"Sie haben doch vorhin von einer dentogenen Zyste gesprochen, oder nicht?"
"Sie haben doch nicht etwa zugehört? Das war aber nicht für Sie bestimmt!"
Ich verkniff mir die Bemerkung, daß ich an den Ohren nichts habe und erwiderte nichts. Später sollte mir die verpaßte Gelegenheit noch leid tun.
"Das ist der Bericht für den behandelnden Arzt. Was Sie wissen müssen, das erzähle ich Ihnen gleich" sagte er trocken.
Und dann erzählte er mir, indem er jeden medizinischen oder wissenschaftlichen Begriff sorgfältig vermied, daß er - bis auf eine leichte Schwellung der Schleimhäute - nichts besonderes feststellen kann. Er sprach in kurzen Sätzen mit einfachen Worten wie zu einem Kind. Jetzt merkte ich erst, daß er mich gehörig auf den Arm nahm.
"Und was ist mit der Zyste?" fragte ich hartnäckig.
"Ich kann sie als Ursache für Ihre Beschwerden mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Wurden Sie im Hinblick auf eine Allergie untersucht?"
"Und ob. War aber bisher nichts zu finden."
"Nuja, eine Nickelallergie haben Sie bestimmt nicht. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück. Nehmen Sie Ihre Bilder gleich mit, den Bericht schicke ich Dr. Nickel nach.
Das passierte vor sechs Jahren.
Vor einiger Zeit schlug ich mir am Wochenende beim Pflastern mit dem Hammer auf den Mittelfinger der linken Hand und suchte am nächsten Montag den Komiker wieder auf: Mein Mittelfinger war nämlich in bezug auf Form, Abmessungen und Farbe mittlerweile kaum von einer Currywurst zu unterscheiden. Ich konnte ihn weder strecken noch richtig beugen.
Der Arzt schien sich in diesen sechs Jahren überhaupt nicht verändert zu haben.
"Wie ist das passiert?" Er betrachtete meinen Finger und bewegte ihn sachte in verschiedenen Richtungen.
"Hammerschlag" gab ich an.
"Man muß aber ein ziemlicher Exzentriker sein, um mit einem Hammer auf seinen Finger zu zielen."
"Den Finger habe ich nur getroffen, nicht anvisiert. Gezielt habe ich auf einen Stein und da war der Finger halt im Weg. Ein Exzentriker bin ich trotzdem, obwohl mich die meisten Leute bloß für einen Sonderling halten."
Meine Hand wurde geröntgt: Gleiche Leuchtscheibe, gleiche Brille, diesmal jedoch ohne Diktat. Offenbar hatte er jetzt mehr Zeit. Der Finger war nicht gebrochen.
"Eine reine Quetschung. Ich schicke Ihrem Hausarzt einen genauen Bericht. Das Hämatom wird Sie noch eine Weile begleiten, weil der spontane Fibrinolyseprozeß seine Zeit braucht, Verband und medikamentöse Behandlung sind aus meiner Sicht entbehrlich. Wenn Sie Bedenken haben, können Sie zu einem Chirurgen gehen, wobei Sie eine Amputation um jeden Preis verweigern sollten. Schonen Sie die Hand und lassen Sie den Arm nicht zu lange hängen. Es ist übrigens in Ihrem Fall auch nicht sehr klug, die Hand zu heben."
Ich machte den Mund auf und wollte gerade fragen, auf welchen medizinischen Zusammenhang die letzte Empfehlung zurückzuführen ist, als ich merkte, daß er mich wieder af den Arm genommen hatte. Meine Hand sah in der Tat so aus, als könnte ich mit Stefan Effenberg verwechselt werden, wenn ich sie - so wie sie mit dem gekrümmten, fast angewinkelten Mittelfinger verformt war - hochgehalten hätte. Und weil ich den Mund schon offen hatte, sagte ich, während er mich grinsend aus seinem Untersuchungszimmer hinausschob, irgend etwas wie "Sie sind mir aber ein Komiker!" oder so ähnlich.
Mein Hausarzt hatte auch viel Sinn für Humor. Er krümmte sich vor Lachen, als er den Bericht las. Er reichte mir das Schreiben über den Schreibtisch. Unmittelbar unter meinen persönlichen Daten fand sich darauf unter der Rubrik "Allgemeines" die folgende Eintragung: "Exzentriker (Sonderling)".
Er hatte wieder gewonnen, dieser Heini, diesmal haushoch.

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