I

Der Lyriker José E. A. Olivier, u.a. Autor der Gedichtbände „Fernlautmetz“ und „Heimatt“, gebürtiger Spanier und Wahldeutscher, der sich selbst als multikulturell und multilingual bezeichnet, hielt neulich in Germersheim eine Lesung. Die gutinformierten Gymnasiallehrer ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, dieses Ereignis als Pflichtveranstaltung im Deutsch-Leistungskurs zu erklären. (Vielleicht haben sie das Ganze sogar selbst eingefädelt, was spielt das schon für eine Rolle.)
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, erhielten anschließend sowohl die Schüler, als auch die Lehrer die Gelegenheit, Fragen zu Inhalt und Form der Gedichte zu stellen.
Die wiederholte Frage der Schüler nach der Bedeutung des Ausdrucks „augwellen im wiederholten ohr.“ aus dem Gedicht „am meer“* führte letztendlich zu einer unwirschen Reaktion des Künstlers, der sich darüber wunderte, wie man einen einfachen Satz, dessen Wörter alle bekannt seien, nicht verstehen könne. Als extremes Gegenbeispiel führte er sein Studium der finnischen Sprache auf, wo er trotz anfangs lauter unbekannten Wörtern nach und nach zurechtgekommen sei.
Als die Schüler ziemlich entnervt versuchten, ihre Fragen mehr in Richtung Form zu lenken, fragte der Dichter barsch zurück, was wohl für einen Sinn mache, über die Form von irgend etwas zu reden, dessen Inhalt man nicht verstehe.
Die Veranstaltung endete, nichtzuletzt wegen der lähmenden Hitze, friedlich. Danach ging jeder das, was er - bezüglich Inhalt und Form - für seine Wege hält.



*Das ganze Gedicht (I steht nach Aussage des Dichters für römisch eins):

am meer

augwellen
im wiederholten ohr. Meerpaarungen &
nicht zu begreifen
die silben

trennung der geräusche
lärmaus
kippt I gedächtnis/
ausufert. Selbst
das vertraute. Ist nachtplötzlich

etwas wie ausgrabung wie
I VATERMEER/ >>habe den klang seiner stimme
vergessen<<. Dort saß er
am verwaisten wasser

: I verwaiste SEELE
wuestenfloh - 27. Jun, 08:55

"Trübtauber Hain am Musenginst. Krawehl, Krawehl!" fällt mir dazu ein, sonst aber weiter nichts.

fely - 27. Jun, 10:36

Da fällt Dir immerhin mehr ein als mir. Nachträglich habe ich erfahren, daß der Dichter am gleichen Tag eine ähnliche Veranstaltung an einer Hauptschule bestritt. Nicht auszudenken, was den Hauptschülern dabei eingefallen ist.
NavigatorSchneiberg - 28. Jun, 09:25

Tja ja. Das Problem liegt sicher nicht im Gedicht, weil das ist halt so, wie es ist, wobei ich jedoch zweifel, ob der Mann berühmt ist. Solche Veranstaltungen sind halt schräg. Wie moderne Kunst auf einem Overhead-Projektor oder Architektur als Kulisse eines Ballerspiels.

Die Geschichte erinnert mich an eine lustige Begebenheit, die sich in der Schule zutrug, auf der meine Freundin unterrichtet (nicht Deutsch). Bei einer Veranstaltung mit einem berühmten und mehrfach preisgekrönten deutschen Lyriker (dessen Name mir gerade leider nicht einfällt), lasen Schüler verschiedene Texte des Dichters vor, über die dann gesprochen wurde. Ein pfiffiger Schüler hatte sich jedoch ein eigenes Gedicht ausgedacht, das in Stil und Tonfall sehr authentisch wirkte. Der sichtlich irritierte Dichter hatte offensichtlich zu gleichen Teilen Zweifel am Gedicht und seinem Erinnerungsvermögen (er schreibt schon sehr lange), bewahrte aber Fassung und nahm das Gedicht als gegeben an. Zuhause durchwühlte er (geleitet vom Zweifel) sein eigenes Werk und deckte den Frevel auf. Wutschnaubend sagte er alle weiteren Termine mit der Schule ab und beschimpfte und schmähte die Schüler.

Schade, denn der pfiffige und sprachgewandte Schüler hätte stattdessen das Lob eines uneitlen Schriftstellers verdient gehabt, mit der dringenden Empfehlung weiter zu schreiben. Man stelle sich vor: ein Schüler wird beschimpft, weil er wie Hemingway schreiben kann...


fely - 28. Jun, 10:00

Ja, solche Veranstaltungen sind schräg. Vor allem ist die weit verbreitete Ansicht, Kunst mit einfachen Begriffen erklären zu können, absurd.
Zu Deiner Anekdote fällt mir ein, daß Beuys u.U. seine Badewanne (die, wie man weiß, zwischenzeitlich von Kunstbanausen zum Kühlen von Bier verwendet wurde) auch nicht sofort von einer gewöhnlichen Badewanne hätte unterscheiden können.

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