Ein Esel in Wien (2)
Der Esel war eindeutig Anas treuer Begleiter, das konnte ich an seinem Gesicht zweifelsfrei erkennen, obwohl er jetzt auf einmal - weiß der Teufel warum - weiß war. Diese Erkenntnis beruhigte mich irgendwie, denn sie gab mir zumindest einen Grund, warum ich auf einmal die Last der Verantwortung für einen Esel tragen mußte. Er, ein Landesel aus den Karpaten, war hier ganz allein in einer fremden Großstadt. Was hätte ich denn tun sollen?
Der Wecker klingelte und unterbrach meine logischen Überlegungen.
Nach dem Frühstück zahlte ich die Hotelrechnung, erfuhr mit großer Erleichterung, daß die TU bloß etwa 10 Gehminuten entfernt war, trug meinen Koffer ins Auto und ließ das Prachtstück auf dem Hotelparkplatz stehen.
Um acht traf ich dann pünktlich beim Prof. Dr. Ing. Urbanczyk ein, einem großen Blonden mit scharf geschnittenem Gesicht, schütterem Haar und einer sehr affektierten Art zu sprechen. Sein Mitarbeiter Dr. Bittner war ein gemütlicher kleiner Kerl mit Brille, der ständig lächelte und für seine geringe Gestalt viel zu große Gesten machte. Wir unterhielten uns knapp eine Stunde über den Stand der Versuche, wobei es mir nach und nach klar wurde, daß die Zwei genauso scharf auf diese Kooperation waren wie ich auch. Sie gehörten nämlich zu diesem narzißtischen Wissenschaftlertyp, der nichts anderes will, als publizieren und im Rampenlicht der Kongresse und Hörsäle stehen. Im tiefen Inneren hatten sie ohnehin kein besonderes Vertrauen zu ihrer Technologie im Hinblick auf eine Weiterentwicklung zum kommerziellen Produkt. Und die Dreckarbeit, um sie vielleicht doch dahin zu entwickeln, die wollten sie erst recht nicht machen, auch für viel Geld nicht.
Nach dieser einen Stunde wurde ich dann in Einweg-Schutzkleidung samt Kopfhaube gesteckt und durch die Reinraumlabors geschleift, wo überall lauter junge Mitarbeiter zugange waren. Ich schüttelte jede Menge Hände, darunter auch die zierliche Hand von Fräulein Urbanczyk, der Tochter des Professors, besichtigte eine Anlage nach der anderen und erfuhr nichts, was ich nicht schon vorher gewußt hätte.
Um halb eins waren wir dann durch. Der Urbanczyk bot mir an, mich in die Mensa mitzunehmen. Ich bedankte mich, log, daß ich bereits um drei zurückfliegen wollte und verabschiedete mich.
Ich mußte unbedingt eine rauchen.
Auf dem Weg nach draußen entdeckte ich eine Cafeteria. Ich holte mir an der Theke einen doppelten Espresso, setzte mich, zündete eine Marlboro an und hoffte, unentdeckt zu bleiben.
Ein junger Mann mit einer Kaffeetasse in der Hand näherte sich.
"Sie sind doch der Herr aus Deutschland, oder? Ich habe Sie im Aquarium… ähem… im Labor gesehen, glaube ich. Mit dieser Schutzkleidung ist es nicht leicht, jemanden wiederzuerkennen."
Sein Gesicht sagte mir gar nichts.
"Ja, der bin ich. Setzen Sie sich doch. Aquarium, also? Passender Name." Die Labors, die ich gerade besichtigt hatte, waren auf der ganzen Länge durch große Glasscheiben vom Korridor aus einsehbar. Die Trennwände zwischen den verschiedenen Sektionen waren ebenfalls aus Glas.
"Schrecklich, so arbeiten zu müssen. Wann geht's wieder heim?"
"Erst heute abend, ich will mir noch ein bißchen die Stadt anschauen."
"Wollen Sie etwas bestimmtes sehen, oder nur so?"
"Nur so. Einfach durch die Stadt spazieren."
"Wenn Sie mögen, führe ich Sie ein bißchen herum. Wenn man wenig Zeit hat, ist eine Besichtigung mit einem Eingeborenen zusammen viel effektiver." Beim Wort "Eingeborenen" lächelte er kurz.
Der Vorschlag kam etwas überraschend. Leichtes Mißtrauen kam auf, ich verdrängte es aber schnell, denn der junge Mann gefiel mir irgendwie.
"Sehr gern, wenn es Ihnen nichts ausmacht" sagte ich.
"Wenn Sie vorher etwas essen wollen, bringe ich Sie in die Mensa. Ich habe schon gegessen."
"Nein, bloß nicht in die Mensa! Ich habe den Urbanczyk nämlich angelogen, daß ich um drei schon abfliege. Ich hole mir gleich ein Belegtes von der Theke."
Er zeigte mir in den kommenden Stunden so viel von Wien, wie ich alleine nicht in einem Jahr hätte entdecken können. Er führte mich von einem Innenhof zum anderen, brachte mich in verschiedene Museen, zeigte mir enge Gassen, wo früher die Tuberkulose grassierte und wo man den Himmel nicht sehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken, und auch weite Plätze und prächtige Paläste. Wir tranken zwischendurch einen Mokka in einem Caféhaus. Er erzählte mir in gewählten Worten von verschiedenen Adelsgeschlechtern, Freimaurern, Künstlern und Wissenschaftlern, die in Wien gelebt hatten, von der politischen Entwicklung vor und nach dem ersten Weltkrieg und auch von der Judenverfolgung.
"Der typische Wiener bringt das Kunststück fertig" sagte er wieder mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht, "weltoffen im Großen und xenophob im Kleinen zu sein, manchmal aber auch umgekehrt."
Solche Bemerkungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eine sehr innige Beziehung zu dieser Stadt und zu ihren Menschen hatte und unwahrscheinlich viel darüber wußte. Er konnte Namen, Daten und Fakten aus dem Ärmel schütteln, daß es einem schwindlig werden konnte. Und das alles verschwendete er an mir.
Später begleitete er mich zum Hotelparkplatz, denn ich mußte langsam zum Flughafen fahren. Er beäugte meine Karosse, sagte aber nichts dazu. Wir verabschiedeten uns.
Während der Fahrt fiel mir auf, daß ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.
In den nächsten Tagen versuchte ich vergebens, herauszufinden, wer er war, indem ich sowohl Urbanczyk als auch seine Mitarbeiter ausfragte. Niemand konnte mir sagen, wer der junge Mann war. Es hieß nur: nicht aus unserer Arbeitsgruppe.
In der Woche darauf rief mich der Urbanczyk an.
Wir einigten uns darüber, die Kooperation neu zu ordnen und die ehrgeizigen Ziele meines Chefs zurechtzustutzen. Als wir mit den dienstlichen Themen durch waren, sagte er beiläufig:
"Übrigens, ich weiß jetzt, wer der junge Mann ist, nach dem Sie gefragt haben. Er ist Philologiestudent und der Freund meiner Tochter, sozusagen mein Schwiegersohn in spe." Er schien über diese Tatsache nicht besonders erfreut zu sein.
"Daher also! Ich hielt ihn für einen Institutsangehörigen. Ich habe mich gewundert, daß er so viel über Wien weiß."
"Er war an dem Tag nur zu Besuch da. Ja, darüber weiß er wirklich viel. Ich kann mir vorstellen, daß sie einen interessanten Nachmittag verbracht haben."
"Die Jugend von heute! Dabei habe ich ihn gebeten, meine Notlüge nicht zu verraten!"
"Das hat er gar nicht. Meine Tochter hat sich verplappert."
Die Frage, die ich ihm noch stellen wollte, verkniff ich mir. Ich konnte nur hoffen, daß er von der Zuhälterkarosse nichts erfahren hatte.
Der Wecker klingelte und unterbrach meine logischen Überlegungen.
Nach dem Frühstück zahlte ich die Hotelrechnung, erfuhr mit großer Erleichterung, daß die TU bloß etwa 10 Gehminuten entfernt war, trug meinen Koffer ins Auto und ließ das Prachtstück auf dem Hotelparkplatz stehen.
Um acht traf ich dann pünktlich beim Prof. Dr. Ing. Urbanczyk ein, einem großen Blonden mit scharf geschnittenem Gesicht, schütterem Haar und einer sehr affektierten Art zu sprechen. Sein Mitarbeiter Dr. Bittner war ein gemütlicher kleiner Kerl mit Brille, der ständig lächelte und für seine geringe Gestalt viel zu große Gesten machte. Wir unterhielten uns knapp eine Stunde über den Stand der Versuche, wobei es mir nach und nach klar wurde, daß die Zwei genauso scharf auf diese Kooperation waren wie ich auch. Sie gehörten nämlich zu diesem narzißtischen Wissenschaftlertyp, der nichts anderes will, als publizieren und im Rampenlicht der Kongresse und Hörsäle stehen. Im tiefen Inneren hatten sie ohnehin kein besonderes Vertrauen zu ihrer Technologie im Hinblick auf eine Weiterentwicklung zum kommerziellen Produkt. Und die Dreckarbeit, um sie vielleicht doch dahin zu entwickeln, die wollten sie erst recht nicht machen, auch für viel Geld nicht.
Nach dieser einen Stunde wurde ich dann in Einweg-Schutzkleidung samt Kopfhaube gesteckt und durch die Reinraumlabors geschleift, wo überall lauter junge Mitarbeiter zugange waren. Ich schüttelte jede Menge Hände, darunter auch die zierliche Hand von Fräulein Urbanczyk, der Tochter des Professors, besichtigte eine Anlage nach der anderen und erfuhr nichts, was ich nicht schon vorher gewußt hätte.
Um halb eins waren wir dann durch. Der Urbanczyk bot mir an, mich in die Mensa mitzunehmen. Ich bedankte mich, log, daß ich bereits um drei zurückfliegen wollte und verabschiedete mich.
Ich mußte unbedingt eine rauchen.
Auf dem Weg nach draußen entdeckte ich eine Cafeteria. Ich holte mir an der Theke einen doppelten Espresso, setzte mich, zündete eine Marlboro an und hoffte, unentdeckt zu bleiben.
Ein junger Mann mit einer Kaffeetasse in der Hand näherte sich.
"Sie sind doch der Herr aus Deutschland, oder? Ich habe Sie im Aquarium… ähem… im Labor gesehen, glaube ich. Mit dieser Schutzkleidung ist es nicht leicht, jemanden wiederzuerkennen."
Sein Gesicht sagte mir gar nichts.
"Ja, der bin ich. Setzen Sie sich doch. Aquarium, also? Passender Name." Die Labors, die ich gerade besichtigt hatte, waren auf der ganzen Länge durch große Glasscheiben vom Korridor aus einsehbar. Die Trennwände zwischen den verschiedenen Sektionen waren ebenfalls aus Glas.
"Schrecklich, so arbeiten zu müssen. Wann geht's wieder heim?"
"Erst heute abend, ich will mir noch ein bißchen die Stadt anschauen."
"Wollen Sie etwas bestimmtes sehen, oder nur so?"
"Nur so. Einfach durch die Stadt spazieren."
"Wenn Sie mögen, führe ich Sie ein bißchen herum. Wenn man wenig Zeit hat, ist eine Besichtigung mit einem Eingeborenen zusammen viel effektiver." Beim Wort "Eingeborenen" lächelte er kurz.
Der Vorschlag kam etwas überraschend. Leichtes Mißtrauen kam auf, ich verdrängte es aber schnell, denn der junge Mann gefiel mir irgendwie.
"Sehr gern, wenn es Ihnen nichts ausmacht" sagte ich.
"Wenn Sie vorher etwas essen wollen, bringe ich Sie in die Mensa. Ich habe schon gegessen."
"Nein, bloß nicht in die Mensa! Ich habe den Urbanczyk nämlich angelogen, daß ich um drei schon abfliege. Ich hole mir gleich ein Belegtes von der Theke."
Er zeigte mir in den kommenden Stunden so viel von Wien, wie ich alleine nicht in einem Jahr hätte entdecken können. Er führte mich von einem Innenhof zum anderen, brachte mich in verschiedene Museen, zeigte mir enge Gassen, wo früher die Tuberkulose grassierte und wo man den Himmel nicht sehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken, und auch weite Plätze und prächtige Paläste. Wir tranken zwischendurch einen Mokka in einem Caféhaus. Er erzählte mir in gewählten Worten von verschiedenen Adelsgeschlechtern, Freimaurern, Künstlern und Wissenschaftlern, die in Wien gelebt hatten, von der politischen Entwicklung vor und nach dem ersten Weltkrieg und auch von der Judenverfolgung.
"Der typische Wiener bringt das Kunststück fertig" sagte er wieder mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht, "weltoffen im Großen und xenophob im Kleinen zu sein, manchmal aber auch umgekehrt."
Solche Bemerkungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eine sehr innige Beziehung zu dieser Stadt und zu ihren Menschen hatte und unwahrscheinlich viel darüber wußte. Er konnte Namen, Daten und Fakten aus dem Ärmel schütteln, daß es einem schwindlig werden konnte. Und das alles verschwendete er an mir.
Später begleitete er mich zum Hotelparkplatz, denn ich mußte langsam zum Flughafen fahren. Er beäugte meine Karosse, sagte aber nichts dazu. Wir verabschiedeten uns.
Während der Fahrt fiel mir auf, daß ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.
In den nächsten Tagen versuchte ich vergebens, herauszufinden, wer er war, indem ich sowohl Urbanczyk als auch seine Mitarbeiter ausfragte. Niemand konnte mir sagen, wer der junge Mann war. Es hieß nur: nicht aus unserer Arbeitsgruppe.
In der Woche darauf rief mich der Urbanczyk an.
Wir einigten uns darüber, die Kooperation neu zu ordnen und die ehrgeizigen Ziele meines Chefs zurechtzustutzen. Als wir mit den dienstlichen Themen durch waren, sagte er beiläufig:
"Übrigens, ich weiß jetzt, wer der junge Mann ist, nach dem Sie gefragt haben. Er ist Philologiestudent und der Freund meiner Tochter, sozusagen mein Schwiegersohn in spe." Er schien über diese Tatsache nicht besonders erfreut zu sein.
"Daher also! Ich hielt ihn für einen Institutsangehörigen. Ich habe mich gewundert, daß er so viel über Wien weiß."
"Er war an dem Tag nur zu Besuch da. Ja, darüber weiß er wirklich viel. Ich kann mir vorstellen, daß sie einen interessanten Nachmittag verbracht haben."
"Die Jugend von heute! Dabei habe ich ihn gebeten, meine Notlüge nicht zu verraten!"
"Das hat er gar nicht. Meine Tochter hat sich verplappert."
Die Frage, die ich ihm noch stellen wollte, verkniff ich mir. Ich konnte nur hoffen, daß er von der Zuhälterkarosse nichts erfahren hatte.
fely - 5. Mär, 16:13