Montag, 13. Februar 2006

Opa

Opa ist 78. Und daß er dieses Alter überhaupt erreicht hat, bedeutet noch lange nicht, daß er sich nicht alle Mühe gegeben hat, um es zu verhindern. Nach seiner Nachtschicht im Chemiewerk ging er gleich in eine nahegelegene Holzbearbeitungsfabrik weiterschaffen, um etwas dazuzuverdienen. Dreißig Jahre lang. In seiner freien Zeit baute er ein Haus, und als dieses halb fertig war, baute er noch ein Stallgebäude und fing so nebenbei mit der Hühnerfarm an. Von diesem Opa, einem Meister der Selbstüberschätzung und Unvernunft, handelt meine folgende Geschichte.

Das Telefon klingelte. Vera ging ran und hörte eine Weile einfach zu. Lautes Heulen und zwischendurch genauso lautes Geschnatter drang bis zu mir. Das Gespräch war dann bald zu Ende.
"Geh bitte rüber und guck nach Papa. Nora hat gerade angerufen, er kriegt wieder keine Luft. Diesmal soll's aber ganz schlimm sein. Sie und Mama wollten den Notarzt rufen, er hat sich aber geweigert." Das Letzte, was Opa in den Sinn käme, wäre, auf eine Frau zu hören.
Ich lief durch den Garten aufs Nachbarsgrundstück und ging durch die Terrassentür rein.
Opa saß nach vorne gebeugt auf der Couch, stützte sich mit beiden Fäusten auf den Marmortisch und rang nach Luft. Sein Atem war eine Mischung aus Pfeifen und Röcheln. Sein Gesicht und die Glatze waren bläulich gefärbt und klitschnaß.
"Ganz ruhig! Atme ganz ruhig weiter!" rief ich im Vorbeigehen, indem ich ihm auf die Schulter klopfte. Er nickte. Ich rannte zum Telefon und rief die Notrufzentrale an. Während meines Telefonats erzählte mir die Oma, sie hätte seinen Hausarzt verständigt, der bereits unterwegs wäre. Vom Notarzt wollte der Opa nichts wissen.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war der Hausarzt schon da. Er gab ihm ein paar Spritzen und zwei rote Kapseln, die er mit den Zähnen zerdrücken sollte.
"Er muß sofort ins Krankenhaus. Ich rufe den Notarzt an."
"Habe ich bereits getan. Die sind schon unterwegs."
Der Rettungswagen stand einige Minuten später schon vor dem Tor.
"Asthma, dazu Herzinsuffizienz. Puls 180, Blutdruck 240/130" sagte der Hausarzt. Opa kriegte eine Sauerstoffmaske, eine Infusionsnadel und ein paar Spritzen verpaßt, wurde auf die Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben.
"Wo fahrt Ihr hin?"
"Asklepiosklinik."
Ich lief zurück und erzählte Vera schnell das Geschehene, dann setzten wir uns ins Auto und fuhren selbst ins Krankenhaus. Wir kamen gerade rechtzeitig. Opa lag bereits in einem Krankenbett und sollte auf die Intensivstation. Wir fuhren zusammen mit den Sanitätern und dem Notarzt im Lastenaufzug mit.
Der Opa versuchte immer wieder, aufzustehen und wollte offenbar weglaufen.
„Nun mach schon. Langsam ist’s höchste Zeit" sagte der Arzt zum quietschenden Fahrstuhl.
Das Bett wurde in die Intensivstation geschoben. Bevor die Schiebetür schloß, konnte ich sehen, wie die Schwester mit Opa kämpfte, der wieder aufstehen wollte.
"Das wird ihm eine Lehre sein" sagte Vera auf dem Weg nach Hause. "Seit Wochen nimmt er seine Pillen nicht. Und sein Spray macht ihn angeblich müde. Dafür klettert er auf die Leiter, um diese Scheißkiwi zu ernten. Ich hoffe, daß er diesmal richtig Angst gekriegt hat und endlich vernünftig wird."
Das hoffte ich auch, denn sein Verhalten konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen. Das mit den Kiwibäumen (dieses Jahr hatte er drei volle Schubkarren geerntet) war noch nichts im Vergleich mit den Erdbewegungen, die er im Gemüsegarten veranstaltete.
Ja, der Opa hat diesmal einen richtigen Schreck gekriegt. Er rang die ganze Nacht mit dem Tod, und der Erstickungstod ist alles andere als angenehm. Die Folgen davon waren aber ganz anders, als wir uns das vorgestellt haben, denn Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Er wurde nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen.
Am Tag darauf fällte er die - bis auf seine geliebten Kiwibäume - letzten Bäume auf seinem Grundstück, eine ziemlich große Eibe und einen nicht viel kleineren Wachholder. Dies geschah natürlich in der Zeit, in der Vera und ich bei der Arbeit waren und nicht widersprechen konnten.
Die Kettensäge war jetzt Dank meiner Pflege gut im Schuß, so daß die Bäume sehr schnell fielen. Zu schnell vielleicht? Die Eibe machte eine ziemliche Delle in die Regenrinne vom Wintergarten und der Wachholder zerstörte Opas "Tomatenverschlag", eine Eigenkonstruktion aus rostigen Rohren, Holzpfählen und Kunststoffplatten, die mit Hilfe von Unmengen Elektrokabel (es hingen sogar ein paar Stecker dran) zusammengehalten wurde.
Die Säge war echt gut im Schuß. Gegen Ende der Aktion sägte er das Kabel mit einem absolut sauberen Schnitt durch.
Jawohl, Opa lebte noch. Und sein Schutzengel offensichtlich auch.

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